botic » f2.8 - Philipp Naderers Photoblog

OccupyLSX.org, The Occupied Times, #occupylsx

Die Suche nach dem Kern der Fotografie, ihrem wahren Wesen[1], ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein sinnloses Unterfangen. Man kann sich ihm nur Schritt für Schritt nähern – aber schon im nächsten Moment hüpft das Ziel wieder von einem davon. Einen so einen Schritt habe ich gerade eben gemacht.

»Circle« von Julia Margaret Cameron (1815 – 79) tauchte beim Schlendern durch die Fotografiesammlung im Victoria & Albert Museum vor mir auf. Schon beim ersten Hinsehen fängt es zu Knistern an, der Blick des Mädchens fesselt. Durch die Datierung[2] erkennt man das Alter der Aufnahme, sie muss etwa 145 Jahre alt sein. Dann sieht man noch einmal auf das Mädchen, spürt noch einmal diesen Blick auf einem aufprallen. Verwundert steht man weiter vor ihr – taucht man in die Vergangenheit ab oder tritt die Vergangenheit aus dem Bild heraus in die Gegenwart? Das eigene Zeitgefühl kommt durcheinander. Dieses Mädchen muss mindestens 80, wenn nicht sogar schon 100 Jahre tot sein. Es existiert nicht. Aber SIE ist für einen Moment da, nur ganz kurz, kühl und wortlos. Und wie das Denken wieder einsetzt, so verschwindet sie auch zurück in die Fotografie.

Dieser flüchtige Moment war mein Schritt hin zum Wesen der Fotografie. Aber wie man glaubt näher gekommen zu sein, schon hüpft es einem wieder ein bisschen davon – ein Spiel.

[1] In »Die helle Kammer« beschreibt Roland Barthes diesen Moment ähnlich. Das »Wesen der Fotografie« ist hier aus seinem Text (deutsche Übersetzung) abgeleitet.
[2] Im Museum findet sich nur eine geschätzte Jahreszahl, die aber zu den anderen Aufnahmen des Kindes passt.

Amüsante Sache.

Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid.